Wir müssen gewohnte Muster und das, was wir unterbewusst gelernt haben hinterfragen

FEBRUAR 03, 2021

Wir müssen gewohnte Muster und das, was wir unterbewusst gelernt haben hinterfragen

by Jule Kirchner

Inhaltsverzeichnis

    Wir müssen gewohnte Muster und das, was wir unterbewusst gelernt haben hinterfragen

    Mit unserer neuen Kampagne möchten wir uns dafür stark machen, dass Frauen* sich nicht für andere verbiegen und einfach so sind wie sie sein wollen. Wir möchten echten Powerfrauen* aus unserer Community eine Plattform geben, ihre Geschichte zu erzählen und so uns und andere Frauen* zu empowern und inspirieren. Offen und ehrlich - ganz nach dem Motto: #seiwieduwillst


    Wir durften der wunderbaren hamburger Schauspielerin, Moderatorin & Aktivistin Lara-Maria Wichels einige Fragen stellen. In dem Interview spricht sie davon, vor welchen Herausforderungen sie steht, was sie gerade am meisten nervt und warum sie sich so für Gleichberechtigung einsetzt.

    Beschreib doch mal in welcher Lebenssituation du dich gerade befindest und wie dein Alltag aussieht. Wie beeinflusst eventuell auch die Corona-Pandemie deinen Alltag gerade als Schauspielerin?

    Aktuell bin ich viel von zu Hause aus tätig. Ich habe das Glück, dass ich auch während Corona drehen durfte, z.B. in einer Fernsehserie. Da konnte ich - natürlich mit Corona Tests und einem sehr guten Hygienekonzept - ein paar Tage drehen. Bei mir zuhause wurde auch ein Teil einer Dokumentation und ein ganzer Werbespot produziert.

    Mein Mann und ich drehen dazu wöchentlich in unserem Wohnzimmer „Schule gegen Sexismus“ Videos für Pinkstinks. Da bin ich sehr dankbar, dass das möglich ist und wir dieses Format trotz der aktuellen Situation umsetzen können.

    Ich weiß um dieses Privileg, dass ich als Schauspielerin und Creatorin in dieser verrückten Zeit gerade arbeiten darf.

    Ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Trotzdem bin auch ich direkt negativ vom Lockdown betroffen, weil die Theater schließen mussten. Ich habe im letzten Jahr im September und Oktober ein Theaterstück geprobt im Hamburger Ohnsorg-Theater. Es heißt “Rita will es wissen” und ich spiele die Rita in dem Zwei-Personen-Stück. Die Rolle liebe ich sehr und das Stück ist wirklich cool und intelligent geschrieben. Ich habe einen tollen Kollegen und eine super Regisseurin.

    Jedoch durften wir leider nur am 01. November die Premiere spielen und am 02. November war es vorbei. Lockdown.

    Das Theater wurde geschlossen und natürlich fühlte sich das wahnsinnig komisch an. Wenn man 5 Wochen fast täglich intensiv probt und dann ist es von heut auf morgen vorbei, das ist schon ein krasses Gefühl! Immerhin hatten wir die Premiere vor einem reduzierten Publikum, was auf jeden Fall sehr schön war. Es gibt so viele andere Theaterproduktionen, die gar nicht stattfinden konnten.

    Ist dieses Format “Schule gegen Sexismus” 2020 auf Grund der Corona Pandemie entwickelt worden oder hat das schon davor bestanden?

    Die Videos zur “Schule gegen Sexismus” und die dazugehörigen Blog-Beiträge gibt es schon seit 2019, also vor der Pandemie. Die Idee ist, Filme zu machen, die aufklären und kritisch hinterfragen. Über Sexismus, Feminismus und eben auch Tabu-Themen ansprechen. Finanziert wird es vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und produziert wird es von Pinkstinks.

    Mit meinen Mann Jendrik, meiner lieben Kollegin Jamie Watson, die auch mit mir im Pinkstinks Vorstand ist, setze ich die Filme um. Da wir diese im ganz kleinen Team von Zuhause aus drehen, können wir glücklicherweise auch während des Lockdowns und unter Einhaltung aller Kontaktbeschränkungen weitermachen.

    Das aller coolste Projekt letztes Jahr war eigentlich das Fighterrella vs. Cinderella Weihnachts-Video. Wir haben mit der deutschen Box-Meisterin im Mittelgewicht (Sarah Scheurich, absolutes Rolemodel für mich!) in einem großen Boxstudio gedreht. In dem Video geht es um Sexismus im Sport, sexuelle Übergriffe und Mobbing auf Social Media. Dem ganzen haben wir Cinderella gegenübergestellt. Die Prinzessin, die sonst nur schön aussehen soll und auf den richtigen Prinzen wartet, geht ihren eigenen Weg und überwindet stereotypische Rollenklischees. Schaut euch das gerne mal an!

    Dabei bin ich Pinkstinks vor allem dankbar für die Möglichkeiten in meiner kreativen Arbeit einfach für so wichtige Themen einstehen zu können, aufzuklären und versuchen einen Mehrwert für viele Menschen zu schaffen. Und auch Gedanken anzustoßen, die Menschen hoffentlich zusammenbringen und Empathie schaffen.

    Wenn ich die Nachrichten von Jugendlichen auf Social Media sehe, wie sehr sie das empowert, was ihnen die Videos und die Aufklärungsarbeit bedeuten. Das ist für mich das schönste Geschenk sowas machen zu dürfen. In dieser verrückten Zeit Kraft geben zu können und vor allem junge Mädchen*, Teenies in ihren individuellen Fähigkeiten zu bestärken. In einer Zeit, in der man jetzt vielleicht sogar noch einsamer ist, da braucht man besonders gute Formate auf Social Media, denen man folgen kann.

    Was beschäftigt dich gerade oder um was kreisen deine Gedanken im Moment am meisten?

    Ehrlich gesagt fällt es mir nicht so leicht immer positiv zu denken.

    Trotz der tollen Sachen, die ich machen darf, hatte ich sowas wie eine kleine Winterdepression. Es ist die ganze Zeit dunkel, man ist dann doch meistens nur zuhause, die Pandemie da draußen wird nicht wirklich besser und man fühlt sich etwas machtlos. Da ist es manchmal schwer sich zu motivieren, auch gute Gedanken zu haben.

    Dazu kommt, dass es einfach so viele Menschen gibt, denen es gerade einfach wirklich schlecht geht. Wir müssen uns nur umsehen: Gewalt zu Hause, Existenzängste oder Vereinsamung, es sind so viele Themen die wir nicht ignorieren dürfen. Wir sollten z.B. auch nach Moria schauen und ins Mittelmeer und überall wo sich Dinge dringend ändern müssen.

    Ich glaube, es ist gerade wichtiger als je zuvor ein globales Bewusstsein zu bekommen. Wie geht es gerade den Menschen da draußen, was kann ich dafür tun, dass es ihnen besser geht?

    Wir sollten nicht vergessen, dass es einfach Zufall ist wo wir auf der Welt geboren werden, wie wir sozialisiert sind, wie wir aufwachsen. Das sind die Gedanken, die in meinem Kopf kreisen, nicht egoistisch zu sein, sondern immer wieder die eigenen Privilegien zu hinterfragen und zu lernen. Es lohnt sich für einander respektvoll da zu sein. Hilfe anbieten wenn es Menschen in deiner Nähe nicht gut geht, selber nach Hilfe fragen wenn du sie brauchst! Und trotzdem auch Selfcare betreiben, was auch immer dir gut tut. Es ist grad nicht einfach. Für ganz viele.

    Was ist deine größte Herausforderung?

    Für mich ist eine große Herausforderung in dieser besonderen und eben auch schwierigen Zeit Selfcare zu betreiben und ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen.

    Obwohl ich vielleicht über solche Dinge auf Social Media selbstbewusst spreche, heißt es nicht, dass ich es immer uneingeschränkt selber bin. Was auch zeigt, dass wir nicht über Menschen urteilen können und sollten, die wir nicht wirklich gut kennen. Da wir gar nicht wissen was dahinter steckt. Keine*r weiß, was z.B. bei mir dahinter steckt, warum ich mich für viele Themen öffentlich einsetze. Welcher Schmerz, welche Angst, welcher Verlust, was mein Antrieb ist, gegen Ungerechtigkeit und für Gleichberechtigung einzustehen.

    Ich werde nicht müde darüber zu sprechen, so lange es intersektionalen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung gibt. Ich werde auch nicht müde mich weiterzubilden um auch meine gelernten Muster zu hinterfragen, weil sich alles weiterentwickelt und es wichtig ist zu verstehen, warum welche Themen in gerade diesem Moment gesellschaftlich hochkommen.

    Und trotz all dieser Dinge, die aktuell durch meinen Kopf, durch die Medien und durch viele Gespräche in unterschiedlichsten Bubblen kreisen, ist es wichtig, eben auch für sich selbst da zu sein. Auch mal versuchen, zur Ruhe zu kommen und das auch anzunehmen. Die letzten Jahre waren ziemlich herausfordernd, immer gab es mehrere Projekte gleichzeitig die ich unbedingt alle machen wollte. Das führt bei mir dazu, dass ich mich faul fühle, wenn ich mich einfach mal hinsetze und nichts tue. Man könnte ja dies, oder sollte ich nicht besser noch das machen? Ich bin gerade in diesem Prozess, zu lernen, dass man auch regelmäßig Abstand und Ruhe braucht. Um sich zu ordnen, den Fokus klar zu setzen und nicht versuchen muss, alles immer gleichzeitig und pausenlos zu bearbeiten. Sonst ist man überarbeitet und festgefahren und schafft eigentlich weniger, als wenn man konzentriert und zielgerichtet an Dingen arbeitet.

    Du hast es jetzt schon öfter angesprochen...Was bedeutet Gleichberechtigung für dich? Und was sind die größten Themen, wenn du dich dafür einsetzt?

    Gleichberechtigung bedeutet für mich die gleichen Chancen für alle. Für alle Geschlechter, für alle Hautfarben, egal wo man herkommt, egal welche Sexualität etc. Für alle! Es bedeutet für mich die gleichen Chancen im Arbeitsleben und privat. Wir müssen gewohnte Muster und das, was wir unterbewusst gelernt haben, hinterfragen. Diese alten Muster ablegen und uns einfach auf Augenhöhe begegnen. Und immer wieder höre ich diesen Satz “Hä, aber wir sind doch schon alle gleichberechtigt, wozu brauchen wir denn überhaupt noch Feminismus in Deutschland? Es gibt ganz viele andere Länder, wo das viel schlimmer ist.” Es ist richtig, da gibt es wahnsinnig schlimme Sachen in vielen Ländern auf dieser Welt. Aber auch hier in diesem scheinbar so gleichberechtigten Deutschland sind noch so viele alte Strukturen, so viele stereotypische Bilder, die wir aus einer Gewohnheit heraus einfach so hinnehmen, statt sie zu hinterfragen. Es gibt so viel Alltagssexismus und -rassismus. Hinschauen, zuhören, hinterfragen, einsehen, emphatisch sein, lernen.

    Eine Frau* mit wechselnden Geschlechtspartner*innen ist für viele gleich ne Schlampe und ein Mann wird dafür gefeiert. Ein Mann*, der Gefühle zeigt, bekommt häufig zu hören, er solle sich nicht so anstellen. Frauen* werden überall sexualisiert und oft auf ihr Äußeres reduziert. Oder Mädchen* die Fußball spielen wollen, gesagt wird, dass das doch nun wirklich ein Jungs-Sport sei. Oder BIPoC werden immer noch so viel gefragt, wo sie herkommen.

    Es gibt unfassbar viele Beispiele die einfach fatal sind.

    Weil dadurch unter anderem auch Frauen oder als Frauen gelesene Personen ganz viele Chancen verwehrt bleiben. Wie zum Beispiel den Beruf zu erlangen, den sie eigentlich erlangen wollen. Wenn man ihnen schon als kleines Mädchen* sagt “Du musst süß sein, du musst dich so verhalten und darfst nicht zu laut und bloß nicht zu stark sein” und sie dann im Laufe ihres Lebens einfach vielleicht gar nicht die Möglichkeit hat, die Stärke zu zeigen, die sie in sich trägt oder die Leidenschaft zu leben, die sie hat. Und deswegen ist es glaube ich so wichtig jede kleine Flamme in sich total ernst zu nehmen und in jedem Individuum zu unterstützen. Dass daraus ein großes Feuer werden kann!

    Das heißt, wenn ein kleiner Mensch einen Traum hat, den eben nicht zu verurteilen, nur weil er scheinbar unstereotypisch ist, weil wir es ja so gelernt haben. Wir müssen die Dinge, die wir „so gelernt haben“ schleunigst hinterfragen <3.

    Was nervt dich im Moment am meisten?

    Am meisten stört mich grad auf Social Media, dass so viel Unreflektiertheit herrscht und viele weiße Menschen sich nicht mit ihrem Rassismus und Sexismus auseinandersetzen, sondern einfach nur egoistisch sind. Die ihre Meinung kundtun, aber nicht empathisch auf Themen eingehen und offensichtlich nichts lernen wollen.

    Außerdem auch ganz doll der immer größer werdende Wettbewerb, der mich privat, als Schauspielerin und öffentliche Person total unter Druck setzt.

    Dieses “okay, wer hat jetzt die krassere Clubhouse Gruppe, den besseren Podcast, wer kann das oder das?”

    Es gibt so viel Missgunst und Wettbewerb. Ich habe manchmal Tage, an denen ich denke, ich will, dass mein Handy geklaut wird und ich es nie wieder bekomme. Es gibt immer wieder komische Trolle, die irgendwie traurig zu Hause sitzen und Menschen, die sich mit intersektionalem Feminismus und Gleichberechtigung auseinandersetzen, das Leben einfach schwer machen wollen und dann einfach so richtig dumme und verletzende Sachen schreiben. Wo du denkst, es gibt so viel Hatespeech, das beweist wie dringend notwendig Aufklärung ist.

    Meine letzte Message ist eigentlich nur: Liebe spreaden. Das, was Fighterella auch in unserem Video gesagt hat, das ist so das logischste gerade, einfach uns einander mit Liebe zu begegnen, weil es gibt gerade schon so viel Scheiß, so viel Hass, so viel Traurigkeit, also lass uns einfach liebevoll, respektvoll und auf Augenhöhe miteinander umgehen und auch mal das Handy ausmachen und auf dem Sofa sitzen.

    Und sich sagen, es ist völlig ok heute nichts zu tun! Also wirklich schöne Sachen zulassen. Auch für sich selber - das ist ganz wichtig.

    Vielen lieben Dank für das wunderbare Interview, Lara!